Träumerei und Albtraum auf der Bühne im Bauhaus

David Timm und Reiko Brockelt beschenken eine dankbare Hörer-Kleinstgemeinde mit wunderbarem Abend

VON UTE VAN DER SANDEN, 17.12.09,

David Timm und Reiko Brockelt «wanderten» im Bauhaus zwischen den Welten.

DESSAU/MZ. Bach und Boogie, Tristan und Tango: An Jazz-Adaptionen von Ohrwürmern aus dem so genannten ernsten Genre haben sich schon viele Musiker versucht, doch nur wenige können eine Vielfalt wie das Leipziger Jazzduo Timm-Brockelt vorweisen. Von Bach über Mozart bis Schumann, von Grieg über Liszt bis Wagner kombinieren sie beliebte Melodien nach Eignung, Lust und Laune mit Jazz-Stilen und Jazz-Tänzen. Am Mittwoch konzertierten der Leipziger Universitätsmusikdirektor und sein kongenialer Saxophonpartner auf der Dessauer Bauhausbühne. Sie gestalteten das letzte Konzert der Jazzreihe in diesem Jahr.

Erstklassiger Auftritt

David Timm und Reiko Brockelt lieferten einen erstklassigen Auftritt ab, boten neunzig Minuten Jazz vom Feinsten und bescherten Klassikliebhabern wie Jazzfans einen Riesenspaß. Netterweise wurden die Ursprungstitel von den Interpreten auch angesagt – purer Service, denn Liszts „Liebestraum“ und „Solveigs Lied“ von Grieg benennen die meisten Hörer sofort. Doch wer kann Präludium und Fuge in c-Moll aus Bachs Wohltemperiertem Klavier oder die Orgelfuge a-Moll schon auf Anhieb eindeutig identifizieren?

Wenn dann aus dem einschlägigen Walzer, der in Griegs „Lyrischen Stücken“ zu finden ist, ein ausschweifendes Jazzpoem lodert, wenn sich in ihm die Leidenschaften aufbäumen und hitverdächtige Soul-Balladen-Splitter abfallen, dann sind Timm und Brockelt in ihrem eigentlichen Element. Dann erkennt man, wie viel Frische, improvisatorisches Potenzial und zeitgemäße Ausdrucksintention in den Klassikern steckt und wie willig sie sich mit modernen Stilmitteln verbinden. Ob Schumanns „Träumerei“ mit einem augenzwinkernden „Sandmännchen“-Melodiezitat beginnt und als brodelnder Albtraum im Bassregister des Flügels verendet, ob Mendelssohn Bartholdys Engel-Chor aus dem „Elias“ eine schicke Samba hervorzaubert oder der „Liebestraum“ als fesch dreinswingende New-Orleans-Hymne erweckt wird: Alle Arrangements sind rhythmisch raffiniert gebaut und harmonisch voller Überraschungen. Besonders interessant wird’s, wenn sich scheinbar nicht Kompatibles wundersam ineinander fügt: „Solveigs Lied“ als taumelnder Bebop, das as-Moll-Präludium von Bach, diesmal mit Querflöte, in einer somnambulen Meditation, aus der Emotionen wie Lavaströme brechen.

Zum magisch schön und mitreißend virtuos gespielten Saxofon gesellt sich der als musikalischer Universalist allseits geschätzte David Timm als begnadeter Klavierspieler. Er durchstreift den Quintenzirkel, ohne über Tonarten nachzudenken, und vermag sich vor Einfällen kaum zu retten. Was er auf den Tasten treibt, ist streckenweise so schwer, dass manche Lisztsche Opernparaphrase dagegen wie eine Fingerübung wirkt. Manchmal, vor allem in Up-tempo-Nummern, fehlt ein Schlagzeug, das dem Pianisten ein Plus an gestalterischer Freiheit ermöglicht.

Begeisterter Applaus

Alle Menschen im Saal applaudierten begeistert. Setzte jemand einen Jauchzer ab, schlug Timm, bewusst oder nicht, den Ton des Einwurfs in der exakten Höhe auf dem Klavier an. Stundenlang hätte das so weitergehen können, aber nach einer Zugabe, auf der Bachschen Orgelphantasie über den Choral „Komm, heiliger Geist“ gründend, war definitiv Schluss. Passte ja auch prima zu den bevorstehenden Jahresendfesten.

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